Ideal City_Invisible Cities 1
Zamosc 2006
kuratiert von Sabrina van der Ley
und Markus Richter
In der ulica T. Kooeiuszki steht, nach einem fast vollständigen Abriss, der Rest einer Frontfassade mit einem großen Fenster vor einer Hofseite.
Die Fensterwand ist an die Rückseite eines Mehrfamilienhauses angesetzt. Das Idealne Niewidoczne Muzeum nutzt die Situation. Die Brandwand des Mehrfamilienhauses und die Fensterwand werden durch zwei aus grobem Holz konstruierte Wände, einem Dach und einer Eingangstür ergänzt. Das so entstandene Idealne Niewidoczne Muzeum fügt sich in die Straße ein und bleibt doch durch die Farbe und das Material ein offensichtlich temporärer Parasit.
Das Idealne Niewidoczne Muzeum (Museum für das Ideale, Unsichtbare) ist ein Museum auf kurze Zeit. Das ist eine Eigenschaft, auf die die wenigsten Museen stolz sind; sie ziehen es nicht einmal in Erwägung, nur für kurze Zeit zu existieren. Andererseits ist es doch besonders in diesem Fall von Vorteil, denn abgesehen von den eingesparten Kosten kann das Idealne Niewidoczne Muzeum nach sechs Wochen seine Arbeit einstellen und die okkupierten Räume für eine alltägliche Nutzung freimachen und wieder verschwinden – ideal.
Ideal! Denn die Aufgabe des Museums ist es, einer erfundenen Figur, dem vierdimensionalen Architekten zu folgen, die dank ihrer Nichtexistenz, also ihrer Unsichtbarkeit, auf- und abtauchen kann, wie es ihr beliebt.
Wie jede erfundene Figur, entwickelt sich auch diese vor einem realen Hintergrund. Als Bild dient der Architekt Klaus Kirsten, der in Berlin gelebt und dort und anderswo einige spektakuläre Gebäude der idealen Moderne in der Tradition des Internationalen Stils errichtet hat. Trotz dieser beachtlichen Leistung ist über ihn nahezu nichts bekannt oder veröffentlicht. Er scheint an seiner Unsichtbarkeit gearbeitet oder von Anderen ins Nichtsichtbare abgedrängt worden zu sein. Vielleicht sollte hier das »Abdrängen von Anderen« nicht übertrieben werden, denn solche Verhältnisse können gerade durch das Nichtstun von allen Seiten mühelos erreicht werden. Er war wohl zu sehr beschäftigt. Heute, nach seinem Tod, bei den Versuchen, mehr über seine Arbeit in Erfahrung zu bringen, spricht man mit Anwälten der Familie, die nicht antworten. So weitet sich auch in der Gegenwart eine größer werdende Lücke, in der das Werk und die Person des Architekten Klaus Kirsten, trotz des Interesses an seiner Arbeit, zu verschwinden drohen.
Das Idealne Niewidoczne Muzeum füllt diese Lücke und begibt sich an den Anfangspunkt der erfundenen Geschichte. Hier bietet es sich an, Sabrina van der Ley und Markus Richter sowie der Stadt Zamość zu danken, die das Idealne Niewidoczne Muzeum im Rahmen der Ausstellung Ideal City – Invisible Cities für kurze Zeit ermöglicht haben. Aus Dankbarkeit und als Anerkennung ist die erfundene Figur in Zamość geboren. Zamość gilt seit seiner spektakulären Aufbauphase Ende des 16. Jahrhunderts als ideale Stadt der Renaissance und ist als solche besonders geeignet, einen Protagonisten der idealen Moderne als Sohn der Stadt aufzunehmen. Der halberfundene Architekt schreibt damit, durch eine rein zufällige Verkettung einiger Umstände (einer ist der Titel der Ausstellung, ein anderer meine Einladung nachZamość), die Architekturgeschichte von Zamość nach 400 Jahren fort.
Der polnische Name des halberfundenen Architekten lautet Mikołaj Chrupowski. Mikołaj Chrupowski ist die relativ nahe Übersetzung von Klaus Kirsten ins Polnische, wenn angenommen wird, dass der Name Kirsten etwas mit Kruste zu tun hat.
Mikołaj Chrupowski ist am 1.1.1900 um 0.00 Uhr in Zamość geboren. Über Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Er war an der Grundschule in Zamość ein unauffälliger, aber begabter Junge. Seine Vorlieben waren dreidimensional. Es wird berichtet, dass er durch seine stille und zurückhaltende Art den Eindruck hinterließ, überall und nirgends zu sein. Schüler und Lehrer waren überzeugt, ihn in mehreren Klassen und Orten gleichzeitig gesehen zu haben. Er verließ Zamość nach seiner Schulausbildung – kehrte aber immer wieder in größeren zeitlichen Abständen zurück. Er bewohnte sein altes Atelier, einen unscheinbaren Anbau. Das letzte Mal wurde er 1995 gesehen.
Seit 2002 forscht eine inhomogene Gruppe nach den Zeugnissen von Mikołaj Chrupowski. Bei Nachlässen und Funden wurden Fotodokumente entdeckt, die eine erstaunliche Reisetätigkeit und eine unmögliche Omnipräsenz belegen. Chrupowski scheint seiner Vorliebe für das Dreidimensionale treu geblieben zu sein, man sieht ihn oft in der Nähe bekannter Architekten. Dabei ist die vierte Dimension ein Faktum, das alle am meisten verblüfft. In den 20er und 30er Jahren ist er auf Fotos zu sehen, die räumlich weit, aber zeitlich nahe beieinander liegen; mit den heutigen globalen Verkehrswegen wäre das zu erklären, aber in Zeiten der Atlantikseefahrt bleiben seine Reisemöglichkeiten unklar. Zudem verblüfft er auf Dokumenten aus den 20er, 30er, 50er und 70er Jahren mit seinem gleich bleibenden Alter.
Ein völlig offener Bereich ist seine Tätigkeit. Er scheint in die globale Entwicklung des Dreidimensionalen, der Politik oder der Kunst verwickelt zu sein, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Es existieren Fotodokumente. Oft sind bekannte Fotos veröffentlicht, auf denen Mikołaj Chrupowski nicht zu sehen ist, bei einer zweiten Wahl taucht er aber auf. Welchen Einfluss hat er auf den Internationalen Stil? Gäbe es eine Moderne ohne ihn? Wo ist er jetzt?
Mikołaj Chrupowski wäre also der halberfundene Architekt und große Sohn der idealen Stadt Zamość. Gegründet vom polnischen Kanzler Jan Zamoyski und zwischen 1580 und 1605 nach Plänen des italienischen Architekten Bernardo Morando errichtet, repräsentiert Zamość die ideale Renaissancestadt aus humanistischem Geist. Sie lag an einer der wichtigen alten Handelsstraßen, die Süd- und Osteuropa miteinander verbanden, ihre Bewohner kamen aus allen Teilen Europas.
Man könnte jetzt, nachdem die Stadt einen Sohn hat, von einer Symmetrie der Moderne sprechen, wenn man an die Tochter der Stadt, Rosa Luxemburg, denkt. Mikołaj Chrupowski ist zwar 27 Jahre jünger, das kann ihn aber kaum von einem späteren (oder früheren) Besuch bei Frau Luxemburg abgehalten haben. So ergibt sich wie von selbst eine Zuspitzung: Welchen Einfluss hatte Rosa Luxemburg auf den Architekten? Oder der Architekt auf sie?
Zwei revolutionäre Politiker, zwei ideale Architekten: Der polnische Kanzler Jan Zamoyski und der italienische Architekt Bernardo Morando, Rosa und Mikołaj.
Das sind Anordnungen und komplexe Fragen, die nicht zuletzt die Forschungsabteilung des Museums zu klären haben wird; ob das allerdings in der zur Verfügung stehenden Zeit gelingt, steht auf einem anderen Blatt.
Idealerweise eignet sich die Figur von Mikołaj Chrupowski, der augenscheinlich in Zeitsprüngen und Ortsverschiebungen zu Hause ist, für eine Studie, die sich mit einigen der Grundlagen von Architektur und Kunst auseinandersetzt. Was kann jemand, der verschwindet, unsichtbar wird und zu jeder Zeit an jedem Ort auftauchen kann, zu der Klärung der zwei großen Strömungen in der Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts beitragen, dem Vergessen und der Wiederholung?
Ist die Wiederholung eine Folge des Vergessens oder das Vergessen die Bedingung der Wiederholung, existieren beide völlig unabhängig voneinander, treten zufällig in eine Beziehung, oder gibt es zeitliche Regeln, Abstände, die ein Minimum und Maximum berücksichtigen, leiden Inhalt und Form, oder entwickeln sie sich parallel zu ihrer Anhäufung, was folgt aus der Beschleunigung der Wiederholung entlang der Zeitachse, welche Zeitsprünge und Haken sind zu erwarten oder vorhersagbar?
Dokumente des Erscheinens
Die photographischen Collagen von 2006, die die Videoarbeit »Der Vierdimensionale Architekt« ergänzen, zeigen den Architekten auf Stationen seiner Zeitreise zwischen Moderne und Postmoderne. Eingeschmuggelt in die photographische Selbstdarstellung der Architekturheroen, blenden diese Collagen die Idee von unbekannten Bedeutungsträgern hinter den ersten Reihen ein. Mit Ironie wird ein Bedeutungskanon in Frage gestellt, in dessen Selbstgewissheit sich eine an sich selbst betrunkene Kulturelite verschluckt.
Ideal City_Invisible Cities 2
Potsdam 2006
kuratiert von Sabrina van der Ley und Markus Richter
In der Schloßstraße 9 in Potsdam steht ein Verwaltungsflügel, der 1750 errichtet wurde. In den 60er Jahren wurde das Gebäude in ein Wohnhaus umgewandelt.
Für die Ausstellung Ideal City_Invisible Cities habe ich eine der Fensteröffnungen mit einem modernistischen Versatzstück überformt. In der Wohnung hinter der Form wird auf einer Projektionsfläche das Video Der vierdimensionale Architekt gezeigt.
Für die zweite Station der Ausstellung Ideal City_Invisible Cities erscheint eine Broschüre, Idealne Niewidoczne Museum (Das Ideale, Das Unsichtbare; Museum) als Rückblick auf den ersten Teil der Ausstellung in Zamosc.
Nachdem die Ausstellung im Frühsommer in Zamośc, der polnischen, idealen Stadt der Renaissance gezeigt wurde, folgte im Herbst ein zweiter Teil in Potsdam. Mit dem vorliegenden Heft Idealne Niewidoczne Muzeum (Das Ideale, Das Unsichtbare; Museum) transportiere ich meinen Beitrag für Zamośc in den zweiten Teil der Ausstellung. Notwendig ist dieser Transport durch die, an zwei Orten stattfindende, zeitversetzte Auseinandersetzung mit der »idealen Stadt« und den »unsichtbaren Städten«.
Das Unsichtbare ist ein Phänomen, das sich als Überhöhung mehr oder weniger von alleine an das Werk anlagert. Das Unsichtbare kann ausgedehnt oder möglichst in Grenzen gehalten werden. Mit diesem Heft zumindest soll das Sichtbare des ersten Teils der Ausstellung ins Sichtbare des zweiten Teils gezogen werden.
Ein weiterer Grund für den Transport ist die Erzählung. Mit dem Idealne Niewidoczne Muzeum tritt die Figur des Architekten Mikołaj Chrupowski in Erscheinung, die ich vor den Hintergrund des realen Architekten Klaus Kirsten geschoben habe. Die Figur des Mikołaj Chrupowski steht für die Wiederholung und das Verschwinden formalistischer und idealer Utopien. Ob das Verschwinden oder Vergessen die Wiederholung bedingt und befördert, oder Wiederholung nur zirkuliert, ist einer der thematischen Stränge der Anordnung.
Welche Differenz in der Wiederholung liegt, wird am zweiten Teil von Ideal City_Invisible Cities inklusive der Ortsverschiebung lesbar.
Der vierdimensionale Architekt
Teil 1 und 2
Video, 2005–2007